Zweiter Frühling eines Weltenbummlers – Teil 1: Survival Kurz-Trip am Fluss
»Wie survivalig wird das Ganze?«, fragte ich, der noch nie ohne Zelt draußen geschlafen hatte. Donald schläft seit fünfzehn Jahren zeltfrei draußen, wie ich später herausfand. Ich wusste bereits um seine Survival-Fähigkeiten, dass er ein Feuer in unter zwölf Sekunden bloß mit geschwungenem Ast, Naturschnur und drei geschnitzten Stücken Holz anbekommt. »Naja«, meinte er nur, »nimm mal nicht zu viel Zeug mit.«
Für mich gar nicht so einfach. Ich will lieber abgesichert sein und packe stets etwas mehr als nötig ein, auch schon früher als Backpacker. Auf meinen Weltreisen lebte ich zwar minimalistisch, aber mein Rucksack war immer voll beladen mit Zelt, Schlafsack, Kamera und was man eben sonst alles so brauchen könnte in der großen weiten Welt. Meine erste Abenteuerreise als Teenager war ein sechswöchiger Sommertrip durch Skandinavien mit meinem Dad. Ich wollte mehr davon und zog nach meinem Realschulabschluss knapp drei Jahre lang überwiegend durch die Welt. Ist das wirklich schon sechzehn Jahre her? Ja, gestehe ich mir sehnsüchtig ein. Seitdem ich wieder zurück nach Deutschland kam, dreht sich das Hamsterrad unentwegt. Ich komme mir mittlerweile fast vor wie ein emeritierter
Professor einer alten Schule. Fragten mich damals Kiwis, Ozzies oder Amis, ob ich Student auf Reisen sei, antwortete ich immer »Yes, I am a student … a student of life.« Wildnispädagogik und Survival sind nun die neuen Begriffe, die mich endlich wieder aus meiner Alltagsroutine holen und frische Perspektiven in meinem Geist entstehen lassen.
In einem Wildnispädagogik-Kurs begegnete ich dann Donald und es dauerte nicht lange, da zeigte er mir beim Lagerfeuer wie man ein Messer richtig schleift und sicher mit der Axt umgeht. Donald liebt das Abenteur und »Rumbutschern« wie er sagt. Als erfahrener Ultra Light Wanderer mit Survival- und Wildniswissen im Ärmel schmeißt er sich am liebsten ins Unbekannte. Er erinnert mich an meine vogelfreie Zeit damals. Nun ist es so weit und wir planen einen Kurztrip durch Sachsen-Anhalt, wandern, draußen schlafen, Feuer machen, Fotos schießen. Für mich heute, als pensionierter Weltenbummler und Papa-Tier, ein Stretch aus meiner Komfort-Zone. Der sitzende, bildschirmlastige Büroalltag beschert mir das Körpergefühl eines steif gewordenen Faultiers. Statt auf Bäumen, klettere ich nur auf meinem Schreibtischstuhl herum.
»Ich will einfach raus und mich bewegen«, dachte ich mir, »einfach mal wieder raus in die Natur.«
Statt Zelt habe ich dann eine Hängematte von Amazonas, Schlafsack, Isomatte und für alle Fälle den Biwaksack von Salewa eingepackt, außerdem noch ein Messer, Feuerstahl, Handsäge, Tarp, Paracord, Edelstahlbecher/ Topf, Wechselsachen, Regenjacke aber auch etwas Verpflegung. Donald kann ja Insektenlarven und Wildkräuter essen, dachte ich mir, ich nehme lieber ein paar Riegel und Knackwürste mit. Zwei Liter Wasser noch, Handy? Naja, für den Notfall, check.
Bepackt und in Wandergarnitur wartete ich dann an unserem Treffpunkt am Bahnhof in Zerbst. Als Donald aus dem Zug ausstieg, dachte ich, er will mich auf den Arm nehmen. »Hast du da nur deine Kamera drin? Wo ist denn dein ganzes Zeug?«, fragte ich.
»Alles hier drin!«
Er zeigte stolz auf seinen kleinen fünfundzwanzig Liter Rucksack mit einem Basisgewicht von sechs Kilogramm.
»Fuck«, dachte ich, als ich auf einen Schlag das Gewicht des mit dreizehn Kilo beladenen Rucksacks auf meinem Rücken spürte.
»Okay, dann mal los. Wo wollen wir lang?«, fragte ich.
»Lass einfach Richtung Osten starten, dann leicht nördlich. Ich kann die Karte der Umgebung hier schon so gut wie auswendig!«, prahlte er. Wir beide waren – dank der Bahn – ellenlang zu spät am Treffpunkt angekommen. Es war bereits spät am Abend und wir hatten nur noch eine Stunde, bis es komplett dunkel wurde. Es war heiß. Nach circa sechs Kilometern Marsch bogen wir von der Straße direkt auf einen Feldweg ab und weiter ins Dickicht hoher Wiesen und Wälder.
»Hier übernachten wir«, meinte Donald, als wir an einem geschützten Platz am Waldrand angekommen waren.
»Feuer dürfen wir hier aber nicht machen, oder was meinst du?«, fragte ich.
»Nein, es ist zu trocken. Außerdem ist das illegal und wenn wir erwischt werden, kostet das richtig Geld.«
»Hast du gar keinen Hunger?«, fragte ich.
»Doch«, meint er, »aber es geht auch ohne.«
Ich ließ die Knackwürste im Rucksack, die schmecken ohne Feuer zum Grillen eh nur halb so gut und ich dachte mir, dass morgen vielleicht ein noch stärkerer Hunger kommen würde und ich so viel Proviant auch nicht dabeihatte. Im Dunklen kuschelte ich mich in meinen Schlaf- und Biwaksack und schlief … nicht ein.
»Entspanne dich, Milan, du kannst das, einfach tief durchatmen und alles loslassen«, versuchte ich mir selbst zu suggerieren. Es fiel mir nicht leicht loszulassen. Erstens schwitzte ich wie ein Eskimo beim Bikramyoga, der Salewa Biwaksack ist eher für Alpinsport-Bedingungen, aber nicht für eine Sommernacht geeignet, zweitens schwirrte ein Bataillon Mücken um meinen Kopf, mal eben frischen Windzug an meine Haut lassen, kostete also zwei Mückenstiche und drittens schrie ein Vogel ganz in der Nähe von uns unentwegt in einem hohen alarmierenden Ton. Das war das Schlimmste. Ein unentwegt schriller Ton, der nicht aufhören wollte. Ich hoffte, der Vogel schlug nur Alarm und beruhigte sich gleich wieder.
»Digger, was ist mit dem Vogel los?« fragte ich.
»Kein Plan«, antwortete Donald, »der hört hoffentlich gleich auf.« Das tat er nicht, stattdessen stimmten zwei oder drei andere dieser komischen Vögel mit ein und stießen die ganze Nacht hindurch alle zehn Sekunden einen schrillen Ton aus. Keine Ahnung, was das für Vögel waren. Ich hasste sie auf jeden Fall und hätte sie wirklich sehr gerne einfach aufgegessen. Wie man einen Vogel mitten in der Nacht ohne Waffen fängt und zubereitet, erzähl ich euch vielleicht in fünf Jahren mal. Naja, davon bin ich aktuell zumindest noch weit entfernt. Donald schien weder Hunger noch Lärm zu arg gestört zu haben, es dauerte nicht lange und ich hörte ihn schnarchen. »Das ist dann also meine erste richtige Survival-Nacht«, dachte ich.
Am nächsten Morgen packten wir zügig zusammen und starteten quer durch den Wald in Richtung Osten. Nach einer Weile bemerkte ich, dass mir langsam das Wasser ausging.
»Donald, wir müssen wohl mal wieder zu einer richtigen Straße und nochmal zu einer Tankstelle Wasser holen!«, rief ich von hinten. Donald antwortete nicht und ging weiter, ohne sich umzudrehen.
»Wir müssen einen Fluss finden«, rief er mir dann nach einem Moment zu.
»Ja, gut«, dachte ich, »macht Sinn, dann machen wir ein Feuer und kochen das Wasser ab und so bekommen wir was zu trinken.« Wobei die Trockenheit uns da nun einen Strick draus drehen wird, befürchtete ich. Ein kleiner Fluss namens Rossel war glücklicherweise nicht allzu weit entfernt. Als wir am Fluss ankamen, zauberte Donald eine ominöse, martialisch aussehende olivgrüne Kunststoffflasche aus seinem Rucksack und blickte mich verheißungsvoll an. Ich schaute nur fragend zurück und war mir nicht ganz sicher, was er vorhatte.
»Das ist ein Wasserfilter«, sagte er, »der Beste. Filtert alles raus, Bakterien, Chemikalien, Schwermetalle, Amöben, sogar Viren soll der rausfiltern können durch Ionen-Austauscher und so, keine Ahnung wie sie (er meinte den Hersteller) das hinbekommen.« Durch den Wasserfilter war es also nicht erforderlich, das Wasser vorher abzukochen, um es keimfrei zu bekommen. Wir stillten unseren Durst aus dem Fluss, füllten die Flaschen auf und zogen weiter. So einfach, so gut. Ich war anfangs etwas skeptisch, aber auch Tage später, keine Spur einer Magen-Darm-Infektion, der Filter ist top.
Ein anderes Survival-Werkzeug, das für Donald unentbehrlich draußen ist: Sein Messer. Der Junge hat nicht nur ein Messer, sondern einen ganzen Haufen unterschiedlicher und hochwertiger Outdoor- und Bushcraft Messer. Auf diesem Trip war sein Cold Steel SRK CPM3V Old Version dabei, ideal zum Hacken und Batonieren. Keine Axt, keine Säge, aber ein gutes Messer dabeihaben, ist Donalds Devise. Als wir an einer Zitterpappel-Allee vorbeikamen, geriet Donald ins Schwärmen: »Siehst du die Blätter da, wie sie im Wind zittern? Daher kommt der Name Zitterpappel. Bestes Holz für’s Bow-Drill-Brett.« Überraschenderweise lagen am Wegesrand gefallene Pappeln, nicht zu frisch und recht gut durchgetrocknet. Ohne zu zögern, stieß Donald zur gefallenen Pappel und fand ein geeignetes Stück, welches er mithilfe seines Messers mit mehreren kraftvollen Hieben abhackte. Dann platzierte er das Aststück senkrecht vor sich, indem er es auf dem Boden am unteren Ende abstellte, er setzte das Messer in der Mitte am oberen Ende des Aststücks an und haute mit einem weiteren beliebigen unterarmlangen Ast auf sein Messer drauf. Klack, klack, klack und ratsch. Mit drei Schlägen spaltete sich das Aststück zu zwei gleichdicken Teilen. Nur noch ein bisschen flach schnitzen auf dem Rücken der Spaltseite und voilá, wir hatten ein Bow-Drill-Brett. Ein Bow-Drill Set besteht aus einem Brett, einem Handstück, einer Spindel, einem Bogen und einer Schnur. Wichtig dabei ist, dass Brett, Spindel und Handstück, die richtige Holzhärte besitzen, damit es mit dem Abrieb und dem ausreichenden Erhitzen des Abriebs funktioniert.
Für das Handstück brauchten wir ein sehr hartes Holz. Wie es das Schicksal wollte, fand Björn Eisenseite den Weg zum Mittelmeer, oder wie es der Zufall wollte, fand Donald Wildgaenger den Weg zum Robinien-Hain. Robinie ist ein sehr hartes Holz und daher ideal für ein Bow-Drill-Handstück geeignet. Auch hier wieder: Hack, hack, hack, knack, Aststück ist ab und klack, klack, ratsch gespalten ist das Handstück rasch. Noch eine Kerbe in die Mitte, fertig.
Die Spindel hatte er dann aus Haselnussholz geschnitzt, welches wir weiter nördlich fanden. Sie wird zu einer Art Stift geschnitzt, beide Seiten angespitzt. Fehlt nur noch Bogen und Schnur. Für den Bogen eignet sich ein biegsamer, aber stabiler, armlanger Ast mit einem Durchmesser von circa zwei bis vier Zentimetern, nicht zu trocken, nicht zu nass. Das hatten wir schnell gefunden. Für die Schnur nimmt ein Anfänger einfach Schnürsenkel oder Paracord. Ein echter Profi hingegen späht lieber in einem Fichtenwald nach echter Naturschnur. Die dünnen Wurzeln der Fichte bilden lange und feine Adern, die in Erdoberflächennähe wachsen. Man buddelt also nur wenige Zentimeter neben einer Fichte mit einem Stock oder den Händen im Boden rum und findet recht schnell ein langes dünnes Wurzelgeflecht. »Perfekt«, sagte er und zog die zwei Meter lange Wurzel wie geschmiert aus dem Boden. »Jetzt noch schälen, und es kann losgehen.«
Mittlerweile hatte es geregnet und die Waldbrandgefahr war entschärft. Nichtsdestotrotz wählten wir einen Platz am Feld, circa zweihundert Meter vom Waldrand entfernt und schleppten Löschwasser heran, damit wir danach keine Glut im Boden zurücklassen und alles ordentlich löschen und ersticken konnten.
Nachdem Donald alle Utensilien für sein Set fertig zusammengestellt und präpariert hatte, setzte er zum Drillen an. Bow-Drill ist gar nicht so einfach. Es benötigt eine präzise Körperhaltung, den richtigen »Schwung« – im wahrsten Sinne des Wortes – und einiges an Kraft, um mit dem Handstück senkrecht auf Spindel und Brett zu drücken. Je länger man reibt, desto mehr feiner Holzabrieb entsteht und desto heißer wird dieser Abrieb, bis er sich irgendwann entzündet und eine kleine Glut entsteht. Theoretisch weiß ich wie das geht, praktisch bin ich noch eine Niete. Immerhin habe ich von gefühlt hundert Versuchen mal eine Glut und ein Feuer hinbekommen. Donald hingegen hat eine Erfolgsrate von neun zu zehn und sein Geschwindigkeitsrekord liegt bei 11,3 Sekunden. Heute gelang es ihm allerdings erst nach etwa einer halben Minute, genau gestoppt hatten wir nicht. Ist auch egal. Hauptsache endlich Knackwürste grillen. Natürlich hatte er auch etwas abbekommen und musste keine Insektenlarven essen, ich hatte ja genügend für uns beide dabei.
Die Nacht war herrlich, ich hatte meine Hängematte zwischen zwei Birken aufgehangen und schlief wie ein Baby im Schaukelbettchen. Am nächsten Morgen frühstückten wir noch ein paar Riegel und Wildkräuter, dann ging es los Richtung Bahnhof. Am nächsten Tag wollten wir früh mit dem Zug Richtung Heimat, also marschierten wir den ganzen Weg auf einmal zurück. Meine Füße platzten fast, ich brauche echt neue Schuhe. Wir kamen spät in Roßlau an, zu spät, um nochmal ein Hängematten-Camp aufzubauen, also wieder schwitzen im Biwaksack? Nein, es regnete. Wir legten uns auf eine gemähte Wiese neben dem Fluss. Ich nahm mein Tarp und legte mich im Biwaksack samt kompletter Ausrüstung darunter. »Use what you have«, meinte Donald noch, nachdem er mir den Tipp mit dem Tarp gab. Ich habe an einem Wochenende mit ihm mehr fürs Leben gelernt als in fünf Jahren an der Uni.